Dieser Text erschien als Kolumne bei Newsflix.at.
"Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück" bedeutet, dass politischer und gesellschaftlicher Fortschritt immer geprägt ist von Widerstand und vereinzelten Rückschlägen. "Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück" bedeutet aber auch, dass Fortschritt, wenn auch träge und langsam, möglich ist.In der EU-Klimapolitik wird diese Phrase um eine unrühmliche Bedeutung erweitert: "Zwei Schritte vor, ein Schritt zurück" könnte auch einfach nur der Anfang von mehreren Rückschritten sein.
Zwei Schritte vor
Ein Rückblick: Ursula von der Leyen wird nach den Europawahlen 2019 zur Präsidentin der Europäischen Kommission gewählt und legt innerhalb weniger Wochen nach Amtsantritt mit großer Inszenierung den Green Deal vor. Dessen Ziel der Klimaneutralität bis 2050 und der gesetzliche Weg, den die EU in den Folgejahren geht, ist mutig und zukunftsgewandt: PKW sollen emissionsfrei, Gebäude energieeffizienter und erneuerbare Energie stark ausgebaut werden. Unternehmen sollen ihre Tätigkeit und jene ihrer Zulieferer umfangreicher auf Nachhaltigkeitskriterien überprüfen. Und dergleichen mehr.
Im Wesentlichen wird der Green Deal von einer breiten Mehrheit der christdemokratischen, sozialdemokratischen, liberalen und grünen Parteien im Europäischen Parlament und dem Rat getragen. Im Vorfeld der Europawahlen 2024 beginnt diese Allianz zu bröckeln. Vor allem in von der Leyens eigener Parteienfamilie regt sich Widerstand. Die Europäische Volkspartei (EVP) schaltet bei dem Gesetz zur Wiederherstellung der Natur auf Fundamentalopposition. Bereits fertig ausverhandelte Regelungen, wie das Lieferkettengesetz oder die Emissionsgrenzwerte für PKW, werden in Formalakten verzögert und teilweise aufgeweicht. Die Gesetze gehen letztlich durch. Die Diskussionen darüber sind aber Vorboten einer Phase der Rückschritte.
Ein Schritt zurück
Ursula von der Leyen wird nach der Europawahl 2024 im Amt bestätigt. Der klimapolitische Enthusiasmus aus dem Jahr 2019 ist mit der Covid-19-Pandemie, Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und der anhaltenden Krise der europäischen Wirtschaft aber abgeebbt. Neben der wachsenden Skepsis der EVP und der Liberalen im Europäischen Parlament, sind viele Regierungen der Mitgliedsstaaten nach rechts gerückt, allen voran Italien.
Der Green Deal wurde von der Kommissionspräsidentin noch als persönliches Herzensanliegen lautstark ausgerufen. Das Nachfolgeprogramm, den Clean Industrial Deal, ließ von der Leyen von ihren Stellvertreter:innen in einer routinemäßigen Pressekonferenz verlesen. Der Green Deal wurde als unerlässliche Antwort auf die Klimakrise dargestellt. Im Clean Industrial Deal werden Wörter, wie "Klima" oder "grün" peinlichst penibel vermieden.
Stattdessen geht es um "Wettbewerbsfähigkeit" – ein Zugang, der nicht nur berechtigt, sondern notwendig ist. Mit strauchelnden Industrien, hohen Energiepreisen und einer immer offensichtlicheren Erpressbarkeit durch die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen, wird die Ökologisierung der Wirtschaft und Gesellschaft zu einem zentralen Puzzlestück, nicht nur im Klimaschutz, sondern auch für die Schaffung von Sicherheit, Arbeitsplätzen, Wohlstand und – eben – Wettbewerbsfähigkeit.
Der Clean Industrial Deal verspricht Antworten auf diese Herausforderungen, wenngleich dessen wirklicher Gehalt in kommenden Monaten und Jahren noch mit Substanz zu füllen sind. Bedenklich wird dieser Fokus allerdings, wenn er als Vorwand dafür verwendet wird, die klimapolitischen Errungenschaften der vergangenen Jahre zurückzunehmen. So zu beobachten etwa beim sogenannten Omnibus-Paket, mit dem die EU-Kommission Berichtspflichten für Unternehmen mit Blick auf Nachhaltigkeit und Lieferketten effizienter gestalten will. Dabei wären viele Maßnahmen sehr sinnvoll: die Vereinfachung von Berichtspflichten, etwa durch eine geringere und standardisierte Zahl an Indikatoren, die gemeldet werden müssen, oder auch staatliche Unterstützung bei der Erhebung und Einmeldung gerade für kleinere und mittlere Betriebe.
Mit den vorgeschlagenen Maßnahmen werden aber nicht nur bürokratische Hürden abgebaut, sondern die Nachhaltigkeitsberichterstattung einfach für weniger Unternehmen gültig und das Lieferkettengesetz nahezu substanzlos gemacht. Leider steht zu befürchten, dass dieser Vorschlag nur ein Vorbote einer Phase noch weitgreifenderer Rückschritte ist.
Noch weiter zurück?
Mittlerweile stehen wichtige Ziele und Maßnahmen in entscheidenden Sektoren offen zur Debatte. Die Kommission hat angekündigt, Zwischenziele für die schrittweise Reduktion von PKW-Emissionen nach hinten zu verschieben. Sie schafft es dabei offenbar nicht mehr, sich zu einem Bekenntnis zum "Verbrenner-Aus" 2035 durchzuringen. Zur Debatte stehen Berichten zufolge auch die Ziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien und die Anforderungen für die Energieeffizienz von Gebäuden.
Auch die EU-Klimaziele selbst sind nicht mehr sicher. Um bis 2050 klimaneutral zu werden, muss der Treibhausgasausstoß bis zum Jahr 2040 um 90 Prozent sinken. Das wurde vom wissenschaftlichen Beirat schon lange berechnet, die Kommission hat sich auch öffentlich dazu bekannt, schafft es aber bisher nicht, das im EU-Klimagesetz verbindlich zu verankern.
Die Folgen dieser Rückschritte werden wir alle spüren. Neben schlechten Nachrichten für das Klima, bedeutet das auch wirtschaftlich nichts Gutes. Je länger wir abhängig von fossilen Brennstoffen sind, desto länger ist Europa erpressbar und unsere Energiepreise der Willkür anderer ausgeliefert.Darüber hinaus lösen die Maßnahmen keine Probleme: Die europäische Automobilindustrie kompensiert ihre Verluste in ihrem wichtigsten Exportmarkt – in China, in dem zunehmend E-Autos dominieren – nicht dadurch, indem sie den Verbrennermotor entgegen allen Marktlogiken künstlich am Leben erhalten darf. Und bei allen Zielen und Maßnahmen gilt: die Stop-and-Go Politik der Kommission ist Gift für jegliche wirtschaftliche Planungssicherheit und untergräbt das Vertrauen in die Politik.
Strategischer Weitblick gefragt
Die Abkehr von Europa durch die US-Administration von Donald Trump macht die wirtschafts- und sicherheitspolitischen Probleme Europas akut. Brüssel sucht händeringend nach kurzfristigen Lösungen, verliert dabei aber jeglichen strategischen Weitblick. Jetzt könnte eine ambitionierte Ökologisierung der strauchelnden Wirtschaft in der EU wichtige neue Impulse verleihen.
Mit der aktuellen Politik der Trump-Administration und dem einsetzenden Brain-Drain in den USA ergibt sich die Gelegenheit, speziell bei Zukunftstechnologien Rückstände aufzuholen und sich sogar relative Wettbewerbsvorteile zu erarbeiten. Außerdem ist es in der aktuellen geopolitischen Situation essenziell, dass sich die EU mit dem Ausbau erneuerbarer Energie oder der Stärkung der Kreislaufwirtschaft eine strategische Unabhängigkeit von Energie- und Rohstoffimporten erarbeitet.
Es ist also klima-, wirtschafts- und sicherheitspolitisch der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um die EU-Klimapolitik zurückzufahren und den Green Deal einzustampfen. Gerade jetzt sind Ambition, Mut und Fortschritt geboten. Dem "zwei Schritte vor" und "ein Schritt zurück" sollte ordnungsgemäß wieder ein "zwei Schritte vor" folgen.